Medienkompetenz neu lernen

Journalismuskrise?

Diskutiert wird ja intensiv – aktuell zum Beispiel hier vom geschätzten Christoph Kappes auf Carta – wie der Journalismus den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft begegnen kann.  Vor dem Hintergrund der #Brexit-Debatten allerorten möchte ich eine These formulieren: Wir müssen als Gesellschaft den Umgang mit Medien neu lernen. Das gilt für die Politik, die Wirtschaft, die Staatsbürger, ja, die Medien als Institutionen mit ihren Managern und Journalisten gleichermaßen.

Wired Lion 4

Dromologie

Die Lichtgeschwindigkeit der Wirklichkeit wird von den Echtzeitmedien in Lichtgeschwindigkeit simuliert – und zwar alles gleichzeitig. Aber weder die menschlichen Produzenten und Journalisten, noch die Rezipienten können dieser Geschwindigkeit folgen. Was macht der Mensch, wenn er nicht mehr mitkommt? Er fällt zurück oder bleibt gar stehen oder geht eigene Wege.

SIE HABEN RECHT – UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN

(Friedrich Nietzsche, dieser Nerd, tippte den Satz im Februar 1882 in Großbuchstaben auf seine neue Schreibmaschine in einem Brief an den Freund Heinrich Köselitz)

Dreht sich die Journalismus- und Mediendebatte in diesen Zeiten nicht immer noch um die längst von den Medientheoretikern verworfene Ansicht, man bilde die Wirklichkeit ab? Sind es Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen einer komplexen, chaotischen, krisenhaften, globalisierten Welt, über die Journalisten schreiben oder tragen die Journalisten es über die Medien hinein (die EU, der EURO, die Politiker, die Flüchtlinge sind schuld? Nur ein Brexit hilft)?
Alles was wir über die Welt wissen, sagt Niklas Luhmann, das wissen wir über die Massenmedien, diese aber manipulieren. Sie kommunizieren nicht nur über Ereignisse (wie den Brexit) sie kommunizieren sich als Ereignis mit (siehe „Handelsblatt goes London“ mit all seinen medialen Derivaten. Vermarktung inklusive).

Und so sucht sich jede Affinity Group unter den Medienkonsumenten seine Medien mit der von ihnen akzeptierten synthetischen Wirklichkeit (alles andere ist dann Lügenpresse) und umgekehrt suchen sich die Medien diejenige Affinity Group, die ihnen Geschäft beschert (z. B. The Sun).

Paulo Virilio hat die zunehmenden Geschwindigkeiten der Medien bis zum „Rasenden Stillstand“ schon vor mehr als 30 Jahren vorausgesehen. In der Echtzeitkommunikation einer heutigen Erlebnisgesellschaft (und der Brexit ist als Gewinner-Verlierer-Erlebnis [machtpolitisch] in Szene gesetzt worden) mit Ereignismedien (live wurde von den Auszählungsergebnissen in der Nacht mit interaktiven Karten berichtet) ist es kein Wunder, dass der Mensch mit seinem natürlich-biologisch limitierten Wahrnehmungsvermögen nicht mehr mitkommt (oder warum fragten die Briten erst nach dem Ergebnis dieses Google, was denn die Folgen wären und wunderten sich die jungen Briten, das es „real, not a game“ war).

Sowohl seitens der Produzenten als auch seitens der Rezipienten geht alles zu schnell. Das Gefühl für Raum und Zeit der Reflexion ist weg. Die Produzenten stehen unter digital-ökonomischen Druck, die Rezipienten kapitulieren vor der Geschwindigkeit und bleiben stehen (z. B. Brexit-Anhänger und ähnliche ältere, sozial und kulturell eher schwächer geprägte Mitmenschen). Sie suchen ihren Platz wieder in der Welt, die sie früher noch kannten und ihnen mentale Heimat waren, und die ihnen die Medien früher so schön geordnet haben. Heute bringen die Medien die Welt eher in Unordnung (wie die Murdoch-Presse in England als Brexit-Betreiber) und bedienen sich halunkenhafter, narzisstischer Populisten (Farage, Johnson, Cameron). Diese Art des Journalismus ist nicht der richtige Weg, um ökonomischen Selbstbehauptungsdruck einerseits und ethisch-verantwortbare Mitnahme stehengebliebener Mitmenschen andererseits auszubalancieren.

Simulation nannte es Jean Baudrillard und führte folgende Metapher an: Jemand, der eine Krankheit simuliert, erzeugt immer einige Symptome der Krankheit an sich. Der Unterschied zur Wirklichkeit bleibt klar, die Krankheit erhält nur eine Maske. Ist ein Simulant, der „wahre“ Symptome produziert nun krank oder nicht?

Die Wirklichkeit, die die Medien als Narrativ (z. B. zur Flüchtlingsthematik) produzieren, lässt sich schließlich nicht durch ein bisschen Open Source hie, ein wenig Kollaboration da oder über Smartphone-Schnickschnacks und Live-Videos im Facebook-Messenger (die morgen auch schon wieder veraltet sind) komplexitätsreduzierend, simplifizierend oder gar schneller als Lichtgeschwindigkeit verarbeiten. Damit wird nur wieder eine andere Realität erzeugt. Was wir brauchen ist endlich die Abkehr vom immer noch herrschenden Irrglauben, es gäbe eine Wirklichkeit jenseits der Medien, egal welcher Gattung, und Journalisten berichten darüber objektiv, umfassend und verständlich.

Wir müssen als Gesellschaft den Umgang mit Medien neu lernen

Wir brauchen die transzendentale Erkenntnis Kant’s vielmehr als gesamte Gesellschaft (daran arbeiten die Medien überragend mit) den Umgang mit diesen, unseren Medien besser zu beherrschen. Die gesellschaftliche Primärfunktion der Massenmedien liegt nach Luhmann in der Beteiligung aller an einer gemeinsam geteilten Realität bzw. in der Erzeugung einer Fiktion, die dann zur Realität wird. Im Ergebnis sollten die Journalisten nicht so sehr eine Welt erklären, die sie nie erklären können (höchstens populistisch simpel, wenn sie nicht zur Lügenpresse gehören wollen), als vielmehr das, was Medien daraus machen. Auch Journalisten bedienen sich derselben.

Denn, das sagt Luhmann in den „Realitäten der Massenmedien“ (Kap. 1, Ausdifferenzierung als Verdoppelung der Realität, S. 9, 2. erw. Auflage, Opladen 1996) auch, ohne Medien geht es nicht:

Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. (…) Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen.

06. Juli 2016 von Thomas
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